Geschichte der Juden
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Kestrich erlaube ich mir, aus dem Buch „Die jüdischen Gemeinden in Hessen, 1. Band, Paul Arnsberg, Societätsverlag, 1971“ die Seiten 441/442 unter Berücksichtigung meiner eigenen Ergebnisse zu interpretieren.
Nach den bestehenden Statistiken lebten in Kestrich im Jahre 1834 von 385 Einwohnern 73 Juden (15,94 %), 1895 von 265 Einwohnern 39 Juden (12,83 %) und 1905 von 251 Einwohnern 33 Juden (11,62 %). Anfang des 19. Jahrhunderts bestand die jüdische Gemeinde aus 20 bis 30 Familien. Der Ort Kestrich gehörte bis 1806 einer Familie der Freiherren Schenck zu Schweinsberg, die dort ein Hofgut unterhielten und mit Land und Waldungen über 400 Morgen bewirtschafteten.
Meistens übergaben sie die Bewirtschaftung einem Pächter. Der heute noch so genannte Schenckenhof mit Teich, Springbrunnen und Parkanlagen besteht noch. Die Wirtschaftsgebäude wurden 1898 abgebrochen. Die Vorbesitzer des Hofgutes und die Schencken selbst haben Juden in Kestrich angesiedelt und gegen Entgelt ihre schützende Hand über sie gehalten, daher der Name Schutzjuden.
Wenn behauptet wird, dass die Stämme erst bei der vorgeschriebenen Annahme bürgerlicher Familiennamen (1819) ihre Nachnamen gewählt hätten, dann wird dies bei dem Studium der Rechnungsakten (1790 ff.) der Gemeinde widerlegt. Schon weit vor 1800 werden die Stammväter mit ihren Vor- und Nachnamen geführt, wie sie auch ab 1823 in den erwähnten Standesamtsakten und schon in den Evangelischen Kirchenbüchern vor 1800 zu finden sind. Im benachbarten Groß - Felda gab es keine Juden, ausgenommen kurzzeitiger jüdischer Besitz. Bis 1938 lebten zwei Familien Goldenberg, drei Familien Bacharach und eine Familie Katz in Kestrich, das betagte Ehepaar Kapenberg und Sally Bacharach bis 1942.
Die Juden lebten völlig integriert in der Gemeinde. Sie waren Viehhändler, Gemischtwarenhändler (Spezereikrämer), Handwerker und fanden sich sogar im Gemeinderat. Eine eigene Volksschule hatten sie nicht. Die jüdischen Kinder gingen in die bestehende bürgerliche Volksschule, was Schulaufnahmeakten belegen. Neben dem normalen Unterricht erhielten sie von einem jüdischen Lehrer (Religionslehrer) Unterweisung in ihrer Religion.
Dieser Unterricht und die Gottesdienste wurden in der 1839 von dem Ehepaar Abraham Bacharach II. und Delz Bacharach, geborene Lewi erbauten und der jüdischen Gemeinde übereigneten Hofreite abgehalten. Der Wirtschaftsteil wurde zur Synagoge umgebaut und 1870 renoviert. In der Synagoge (ein Fachwerkbau) mit Judenbad wohnte auch der jeweilige Religionslehrer. Beachtlich ist, dass die Synagoge (im Volksmund heute noch Jirreschul = Judenschule genannt) in unmittelbarer Nachbarschaft zur Evangelischen Kirche errichtet wurde.
Leider konnte der schöne Fachwerkbau nicht erhalten werden und wurde durch einen Neubau mit Fachwerkaufsatz nach altem Muster ersetzt. Das Haus mit dem eigentlichen Betraum steht noch in ursprünglicher Form und wird restauriert. Die Synagoge hatte 41 Männer- und 17 Frauenplätze. Das Inventar und der Innenraum wurden im November 1938 von Fanatikern zerstört.
Viele Kestricher Juden wanderten von 1840 bis 1933 nach Amerika aus. Nach 1933 gingen die Verbliebenen nach Palästina (Israel), Südafrika und Nordamerika ins Exil. Eine Familie Goldenberg hat von Amerika aus um die Jahrhundertwende ihrer Heimatgemeinde beträchtliche Geldmittel zukommen lassen, so dass diese eine Zeit lang völlige Steuerfreiheit genoss. Diese Zuwendungen bestanden in Form von Stiftungen. Moses und Simon Goldenberg hatten der Gemeinde Kestrich laut Aufstellung vom 25.10.1940 insgesamt 20.958,-- RM geschenkt. Mit diesem Datum wurde das Geld auf Befehl des Landrates wie folgt verteilt:
-
Die Moses Goldenberg Stiftung Kapital 8.350,-- RM wird umbenannt in Stiftung für Schul- und Bildungszwecke der Gemeinde Kestrich.
-
Die I. Simon Goldenberg Stiftung Kapital 5.271,-- RM wird umbenannt in Stiftung für Jugendertüchtigung der Gemeinde Kestrich.
-
Die II. Simon Goldenberg Stiftung Kapital 2.100,-- RM wird umbenannt in Stiftung für Fürsorge und Wohlfahrtszwecke der Gemeinde Kestrich.
-
Die III. Simon Goldenberg Stiftung Kapital 5.237,-- RM wird noch umbenannt.
Nach dem Krieg ist nach langem Schriftverkehr und zeitraubenden Verhandlungen das Kapital der Gemeinde zugeschlagen worden.
Die Verkaufsurkunden zwischen 1933 und 1938 weisen nach, dass die Haus- und Grundstücksverkäufe jüdischen Besitzes ordnungsgemäß abgewickelt wurden. Es ist nicht ein einziger Fall von Vorteilsnahme bekannt.
Im Ersten Weltkrieg sind Moses Katz und Hugo Bacharach gefallen. Ihre Namen wurden auf einer Ehren-Gedenktafel in der Evangelischen Kirche und auf dem Ehrenmal des Friedhofes Kestrich festgehalten und haben die schlimmen Zeiten des Dritten Reiches überdauert.
Der Nationalsozialismus breitete sich auch in Kestrich sehr früh aus. Die von Berlin ausgehenden menschenverachtenden Gesetze und Verordnungen wirkten sich natürlich auch hier aus. Schilder bezüglich von Kauf- und Verkaufverboten mit Juden tauchten auf, alte Verbindungen zerbrachen, Beschimpfungen wurden laut und es wurde nach den verbliebenen Juden mit Steinen geworfen. Trotzdem haben besonnene Kestricher die bis 1942 im Ort lebenden Juden heimlich, manchmal sogar offen, unterstützt. So ist bekannt, dass trotz Verbotes mit den Verbliebenen gehandelt wurde und ihnen Lebensmittel „zugesteckt“ worden sind.
Das betagte Ehepaar Kapenberg und der 41-jährige Sally Bacharach konnten nicht gerettet werden. Sie, die letzten Juden von Kestrich, wurden im September 1942 von der SS aus Gießen abgeholt, deportiert und in Theresienstadt ermordet. Über den Ablauf des „Abtransportes“ wurde mir erst sehr spät von Augenzeugen berichtet. Die ganze Aktion war menschenunwürdig und beschämend.
Nach meinen Unterlagen sind mindestens 15 Juden aus Kestrich in den Vernichtungslagern umgekommen. Als letzte Erinnerung an die jüdische Bevölkerung bleibt die Synagoge und der alte Judenfriedhof mit seinen Grabsteinen.
Die vorliegenden Rechnungen der Israelitischen Gemeinde (wörtlich: Rechnung über Einnahme und Ausgabe der Israelitischen Gemeinde Kestrich im Kreise Alsfeld für...) für die Jahre 1899 – 1938 geben Aufschluss über das Vermögen mit Rechnungsführung. Weitere Rechnungsurkunden vor 1899 oder nach 1938 liegen nicht vor. Es sind jedoch die allgemeinen Rechnungsurkunden der Gemeinde Kestrich von 1790 bis heute vorhanden. In diesen tauchen die steuerpflichtigen Juden auf, die für die folgende Zusammenstellung verwertet wurden.
Aus den genannten Quellen konnten die Religionslehrer, die 1. Vorsteher und die Vorsänger ermittelt werden:
Datum: | Religionslehrer: | 1. Vorsteher: | Vorsänger: |
1834 – 1848 | Isaak Adler aus
Stadt Lengsfeld |
||
1848 – 1850 | Marckus Hauser
aus Grünberg * 1818 / + ? |
||
1850 – 1863 | NN Metzger | ||
1863 – 1865 | David Collin (C 2.)
*1810 / + 1870 |
||
1865 – 1888 | Ruben Jacob Leermeester
(L 2.1.) aus Amsterdam * 1822 / + 1888 |
||
1899 – 1905 |
NN Friedberg, später NN Steinhauer aus Storndorf |
Döbel Goldenberg (G 1.4.2.) 1874 - 1902 * 1844 / + 1933 ab 24.02.1902 Abraham Bacharach (B 2.4.3.) 1902 – 1906 * 1856 / + 1935 |
Abraham Kapenberg (K 3.3.1.) 1878 - 1906 * 1848 / + 1906 |
1905 – 1906 | NN Steinhauer |
Abraham Bacharach (s.o.) bis 1906 Salomon Bacharach (B 2.4.4.) 1906 – 1910 * 1865 / + 1938 |
Abraham Kapenberg ( s.o.) 1878 - 1906 |
1907 – 1910 | NN Steinhauer |
Salomon Bacharach ( s.o.) |
Leopold Kapenberg ( K 3.3.1.2.) 1907 – 1938 * 1880 / + 1942 |
1911 – 1913 | NN Steinhauer |
Abraham Bacharach (s.o.) 1911 – 1913 |
Leopold Kapenberg (s.o.) |
1914 – 1917 | NN Steinhauer |
Moses Katz (K 6.3.) 1914 – 1916 * 1877 / + 1916 Hermann Goldenberg (G 1.4.1.3.) 1916 –1917 * 1875 / + ? |
Leopold Kapenberg (so.) |
1917 – 1919 | NN Steinhauer |
Heinemann Goldenberg (G 1.4.6.) 1917 – 1921 * 1852 / + 1921 |
Leopold Kapenberg (s.o.) |
1920 – 1923 | NN Steinhauer |
Heinemann Goldenberg (s.o.) dann NN Adler aus Ulrichstein |
Leopold Kapenberg (s.o) |
1924 – 1925 | NN Steinhauer |
Sigmund Bacharach (B 2.4.3.1.) 1924 – 01.12.1935 * 1889 / + 1937 |
Leopold Kapenberg (s.o.) |
1926 – 1938 | NN Stern aus Lauterbach
ab 1935 Jacob Bick aus Nieder- Ohmen. Die Schule wurde am 1.10.1936 geschlossen. |
Sigmund Bacharach ( s.o.) ab 1.4.1936 Leopold Kapenberg |
Leopold Kapenberg (s.o.) |
Nachbetrachtung:
Die nachfolgende Aufstellung der jüdischen Geschlechter von Kestrich kann als beinahe vollständig bis auf den Zeitraum 1809 – 1822 angesehen werden. Natürlich sind noch bestimmte Quellen zu erforschen und Lücken zu schließen. Für jeden Hinweis bin ich dankbar und werde ihn beachten und für eine spätere Auflage verwenden.
Die Arbeit soll daran erinnern, dass jüdische Mitbürger über vierhundert Jahre mit und neben unseren Altvorderen gelebt und damit mit ihnen gearbeitet, gefeiert aber auch gelitten haben. Sie fühlten sich trotz ihrer anderen Religion als Deutsche, arbeiteten hier, nahmen in allen Bereichen am Gemeindeleben teil, waren Soldaten in deutschen Einheiten, zogen in Kriege und fielen für ihre Heimat und ihr Vaterland.
Als man sie verbrecherisch ausgrenzte nahm man ihnen ihre Heimat und ihr Vaterland. Vor mehr als 70 Jahren begann ihr leidvoller Exodus. Damit endeten in unserer und ihrer Heimat vierhundert Jahre jüdische Geschichte – endete auch ein Teil Menschlichkeit.