Auswanderung

Judenpfadtexte (Auszüge aus über 35 Tafeln)

           

Agrarreform beschleunigte Landflucht

Das 19. Jahrhundert war eine Periode des Umschwungs: Der ländliche Raum verlor an Bedeutung, die Städte wurden immer wichtiger. Eine Ursache hierfür liegt in der Agrarreform. Der heutige Vogelsbergkreis war damals durch die Bauernschaft und viele kleine Dörfer mit steinigen Äckern und Wiesen geprägt. Sogar in der größten Stadt der Region, Alsfeld, betrieben die Bürger neben einem Handwerksberuf in der Regel noch Landwirtschaft. Die Agrarreformen des 18. und 19. Jahrhunderts sorgten dann dafür, dass adliger Grundbesitz zunehmend an die Bauern abgegeben wurde.

 

Seit den 1820er Jahren war ein Anwachsen von Kleinbauern-Betrieben zu verzeichnen, da sich auch ärmere Dorfbewohner trotz der finanziellen Belastungen Landwirtschaftsflächen kauften. Anstelle der Abhängigkeit vom Adelsherren, an den der "Zehnte" zu entrichten war, entstand ein kapitalistisches Dorfleben mit einer wachsenden Anzahl von Besitzern kleiner Landparzellen, die als Lohnarbeiter Geld hinzuverdienen mussten.

 

Das betraf die Juden mittelbar, denn sie lebten vielfach vom Handel mit Bauern — und wenn es denen schlecht ging, war das für den Händler nicht von Vorteil. Und Missernten setzten die Bauern unter Druck. Folgen waren Auswanderung und Landflucht, im Vogelsberg besonders ab Mitte des 19. Jahrhundert zu verzeichnen. Der Umschwung zu einem der führenden Industriestaaten mit einer starken Landwirtschaft kam in Deutschland erst zwischen 1871 und der Jahrhundertwende.

 

Missernten trieben zur Auswanderung

Die Landwirtschaft bildete die Lebensgrundlage der Dorfbewohner im Vogelsberg, von den Bauern lebten Händler und Handwerker. Missernten und drückende Armut sorgten im 19. Jahrhundert für große Not unter der Landbevölkerung, gleich ob christlich oder jüdisch. Deshalb suchten viele Menschen aus demVogelsberg ihr Glück in der Auswanderung. Bereits um 1800 befanden sich die kleinen und mittleren Bauernhöfe in einer angespannten Lage. Dann kamen drei Missernten zwischen 1816 und 1832. Eine lang anhaltende Agrarkrise von 1844 bis 1856 war Ergebnis von weit verbreiteten Kartoffelkrankheiten.

 

Da blieb vielen Menschen nur die Flucht in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aus dem kleinen Dorf Arnshain (heute Teil von Kirtorf) wanderten von 1825 bis 1900 rund 300 Menschen aus. Die jüdische Gemeinde Kestrich schrumpfte, um 1864 suchten drei junge Leute der relativ wohlhabenden Familien Bacharach mit 17 bzw. 21 Jahren in den USA ihr Glück. Aus Romrod machte sich die Familie um Isaac Flörsheim, Vorsteher der jüdischen Gemeinde, 1855 nach Amerika auf den Weg. Sechs Söhne zwischen sechs und 21 Jahren waren dabei.

 

Auswanderung lockte die verarmte Landbevölkerung. So wanderten um 1852 aus Hessen-Kassel mehr Vermögenslose als Vermögende nach Amerika aus. Eine Folge von Wanderungsbewegungen in die USA und teilweise in die aufblühenden Städte war das Verschwinden des „Landjudentums": Kleinere jüdische Landgemeinden wie die in Romrod waren zu Beginn der 1930er Jahre fast erloschen. 1935 löste sich die Gemeinde auf, die Synagoge wurde verkauft.

 

Die Freiherren Riedesel duldeten keine Juden

 

Rund um das ,Riedesel-Land", das Gebiet um Lauterbach, gab es einst blühende jüdische Gemeinden wie Storndorf, in denen die Händler lebten, die nur tagsüber in Lauterbach Handel treiben durften - nachts mussten sie das Gebiet verfassen. Die Region Lauterbach unterstand der Familie Riedesel zu Eisenbach, die 1680 zu Freiherren wurde. Sie regierte in ihrem Territorium mit eigener Verfassung und Gerichtsbarkeit

Im Unterschied zu den vergleichsweise toleranten Landgrafen von Hessen-Darmstadt hatten die Riedesel den Juden die Niederlassung in ihrem Gebiet verboten. Grund hierfür war wohl die starke Religiosität der Familie Riedesel, die zur Ausgrenzung der Nicht-Christen führte. Erlaubt wurde nur der ambulante Handel. Das wurde auch schriftlich so festgehalten, so in einem Gerichtsschreiben von 1789: „Juden werden gar nicht geduldet, auch dürfen außer den drei Jahrmärkten keine mit Kramwaren hausieren, wo dann jeder l0xer für die Erlaubnis zahlt. Doch ist ihnen der Handel mit alten Kleidern, altem Messing, Eisen und Kupfer unentgeltlich gestattet".

Die "Judenpfade", alte Handelswege zwischen den Ortschaften, boten die schnellste Möglichkeit von Lauterbach nach Storndorf und Crainfeld auf hessischem Territorium zu gelangen. Erst nachdem das Riedesel-Gebiet 1806 in den Besitz des Großherzogtums Hessen überging, durften sich Juden niederlassen. Es dauerte aber noch bis 1829, dass der Stoffhändler Meyer Strauß einen „Kramladen mit Ellenwaren" in Lauterbach eröffnen durfte, er musste aber in Grebenau wohnen bleiben. Erst ab 1866 siedelten sich jüdische Familien in Lauterbach an.

 

Gewürze für Vogelsberger: Salomon Adler

 

Vor der Gleichstellung mit ihren christlichen Mitbürgern lebten viele Juden vom Handel, der nicht an die Mitgliedschaft in Zünften gebunden war. So auch Salomon Adler, 1770 geboren, der in Kestrich lebte. Er handelte mit „Spezereien", also Gewürzen, früher ein wichtiges Handelsgut. Wie viele andere Juden jener Zeit war Salomon Adler ein Schutzjude. Als solche bezeichnete man seit dem Mittelalter Juden, die von Kaisern, Landesfürsten und anderen Adligen mit Schutzbriefen versehen wurden. Damit waren sie gegen Verfolgung abgesichert, mussten dafür aber auch hohe Summen an ihre Schutzherren bezahlen.

Adler lebte mit Frau Fanny und drei Töchtern im eigenen Haus in der Straße „Am Welsbach“. Auch wenn er nicht in die christliche Kirche ging, wurde er an deren Kosten beteiligt: 1834 zahlte er als Hausbesitzer das „Läutgeld", eine Abgabe der Bürger für Küster von christlichen Kirchen. Nach seinem Tod 1838 übernahm seine Tochter Sarah das Haus und verkaufte es an ihre Schwester Särchen, die mit Joseph Blum verheiratet war, allerdings kinderlos blieb. Der Beruf wurde vererbt Adlers Töchter waren alle Spezereihändlerinnen und lernten vermutlich bei ihrem Vater. Die jüngste Schwester Berle wurde noch 1858 als Besitzerin des Hauses aufgeführt. Aus den Steuerlisten geht hervor, dass die Adlers zu den wohlhabenderen Bewohnern  Kestrichs gehörten.

Ein sichtbares Zeichen der Familie Adler ist die "Jirreschul", wie die Synagoge mit angrenzendem Schulraum genant wurde. 1811 haben Salomon Adler, Herz Salomon Bacharach und die übrige Judenschaft von Kestrich bei einem reichen Bürger namens Graulich 300 Gulden geliehen, um die Schule gegen Brand versichern zu lassen. Die Judenschaft zahlte das Geld in Raten zu 50 Gulden ab. Allein diese 50 Gulden waren ein kleines Jahreseinkommen.

 

Schlossberg Ulrichstein

 

Der Schlossberg Ulrichstein (614 m) liegt im nordwestlichen Teil des Vogelsberges. Er ist ein ehemaliger Basaltschlot des Schildvulkans Hoher Vogelsberg, der vor ca. 19 Millionen Jahren entstand. Auf seiner Kuppe stehen die Überreste der Burg von Ulrichstein aus dem 12. Jahrhundert, welche einst zum Schutz wichtiger Handelswege diente. Am Fuße des Burgberges erstreckt sich dieStadt Ulrichstein, die höchstgelegene Stadt Hessens. In einer Urkunde von 1296 ist der Wald von Ulrichstein als Besitz des hessischen Landgrafen Heinrich I. ausgewiesen. Im 14. Jahrhundert kam dieser Besitz als Lehen an die Herren von Eisenbach, die die Burg stark befestigten und weiter ausbauten.

Den Herren zu Eisenbach folgten im 15. Jahrhundert die Riedesel als landgräfliche Erbmarschalle und Rentamtmänner. Sie nutzten auch die Gebäude unterhalb des Burgbergs - noch heute erhaltene Basalt-Bauten von 1464 - zur Eintreibung der Wegzölle und des "Zehnten" sowie zur Wahrnehmung der Gerichtsbarkeit bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806.

Trotz der Restaurierungen ist die Struktur der Anlage nur noch wenig erkennbar. Es gab eine innere Burgmauer (Anfang der 1990er Jahre saniert) und eine äußere (im Jahr 2000 erneuert) mit einem Wehrturm, der 2004/05 zum Aussichtsturm aufbereitet wurde. Im Süden des Areals sind die Grundmauern von Ställen und Wirtschaftsgebäuden sowie der Burgkapelle freigelegt, 2003 ist eine Zisterne entdeckt worden.

 

Staatsbürger

 

Im Romröder Stadtarchiv befindet sich ein Schreiben der Großherzoglich Hessischen Regierung der Provinz Oberhessen vom 6. Oktober 1821. Dort heißt es, dass Juden die Staatsbürgerschaft erhalten, wenn:

• sie deutsch lesen und schreiben können.

• ein anständiger Lebenswandel vorliegt.

• Treibt der Jude Handel, so muss er ein Vermögen von 4000 Talern vorlegen, in Kapital und Immobilien.

Letzteres war eine enorme Summe Geld, so ist das Vermögen eines Mannes aus Bobenhausen bekannt, der mit seiner Verlobten 1200 Taler besaß. Zudem musste ein jüdischer Händler in die Handelszunft eintreten, wenn eine vor Ort vorhanden war. Dabei musste er auch alle Pflichten erfüllen, die für den Beitritt nötig waren. Das war ebenfalls wieder mit Abgaben verbunden. Den "gewöhnlichen Schacher“, was vermutlich gleichzusetzen ist mit "Nothandel", soll ein solcher Bürger aufgeben, so die Forderung der Regierung. „Nothandel" bezeichnet die gebräuchliche Form des Viehhandels und ähnlicher Tätigkeiten, von denen viele Juden damals lebten.

Ein jüdischer Bürger musste sich verpflichten, sich nie mit solchem "Schacher“ zu beschäftigen. Mit "Schacher" kann "Wucher" gemeint sein, was zur damaligen Zeit einfach Geldverleih bedeutete. Auch dies war eine Beschäftigung, die den Juden aus wirtschaftlichen Gründen aufgezwungen wurde und für die sie sowohl mit Verachtung als auch mit Vorurteilen gestraft wurden. Ebenfalls Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft war, einen offenen Laden zu betreiben und kein Hausiergeschäft.

Doch auch das Hausiererhandwerk war nicht kostenlos. In einer Anweisung aus Romrod von 1824 heißt es, dass Schutzjuden künftig auch für das Hausieren in ihren Wohnorten eine jährliche Abgabe von 10 Gulden entrichten sollten. Um diese Abgabe "gehörig controllieren" zu können, erhielt der Hausierer eine Urkunde.

 

Sternwarte

 

Stumpertenrod ist ein Zentrum für Amateur-Astronomen. Die Stemwarte "Sternenwelt“ bei Feldatal - Stumpertenrod wurde von 2006 bis 2008 errichtet. Sie umfasst ein Seminargebäude, eine Beobachtungskuppel sowie ein Beobachtungsgebäude für Gruppen. Im Kuppelbau des Observatoriums befindet sich das Hauptinstrument, ein Cassegrain-Spiegelteleskop mit einem Hauptspiegeldurchmesser von 0,5 Metern und einer Brennweite von 5000 Millimeter im Sekundärfokus. Es sammelt etwa 4000mal mehr Licht als das menschliche Auge und verspricht tiefe Einblicke in das Universum.

Im großen Beobachtungsgebäude stehen ein Linsenfernrohr, ein mobiles Spiegelteleskop mit einem Hauptspiegeldurchmesser von 0,6 Metern und kleinere Beobachtungsinstrumente. Um den Blick auf den Sternenhimmel frei zu haben, lässt sich das gesamte Dach dieses Gebäudes wegschieben.

Die Lage im oberen Bereich des Vogelsberg-Massivs ist ideal für astronomische Beobachtungen. Der Ort liegt mit Ober 500 Metern recht hoch, was für eine klarere Luft sorgt. Zudem ist die Region dünn besiedelt und liegt abseits der großen Städte. Dadurch ist die Lichtverschmutzung durch Abstrahlungen von Städten oder durch Strahler von Discotheken gering. Das Beobachtungsgelände befindet sich außerdem in einer kleinen Senke. Das verringert nicht nur die Lichtglocken der größeren Städte im Umkreis von 50 bis 100 Kilometern, sondern mindert auch die teilweise recht heftigen Vogelsberger Winde.

 

Viehjuden und Bauern

 

Dass mehrere Juden im ländlichen Hessen Viehhändler waren, hatte historische Gründe, waren sie doch bis zur Emanzipation (Gleichstellung mit den Christen) von vielen Berufen ausgeschlossen, da sie nicht in die Zünfte aufgenommen wurden. Dadurch wurde der Kleinhandel mit Tuchen, Kurzwaren oder Gewürzen zum Lebensunterhalt vieler Juden, was auch den Handel mit Rindern und Pferden mit einschloss. Der ambulante Händler war für die Bauern wichtiger Lieferant, schon weil die christlichen Dorfbewohner im 19. Jahrhundert kaum mehr als einen Kilometer aus ihrem Ort herauskamen. Dabei hatten die jüdischen Händler im Vogelsberg offenbar ihre festen Kunden. Sie wussten, wann welcher Bauer ein Kalb abgeben konnte und bahnten so vorteilhafte Geschäfte an.

In Kestrich lebten die Familien Bacharach und Goldenberg im 19. Jahrhundert vom Viehhandel. Sie waren damit relativ erfolgreich und konnten sich Häuser leisten, so war die Straße Am Welsbach gleichsam die Straße der Bacharachs. Doch hat der Wohlstand nicht verhindert, dass auch aus diesen Familien viele Mitglieder in die USA ausgewandert sind.

Das grundsätzliche Vertrauen der Landwirte in „ihre Viehjuden“ ist in Notzeiten schnell in Feindseligkeit umgesprungen. Gerade im 19. Jahrhundert kamen Konflikte auf, Ursachen dafür waren Unsicherheiten durch die schwindende Macht des örtlichen Adels, Missernten und Viehseuchen. Schnell wurde der jüdische Viehhändler für Armut und Verschuldung der Bauern verantwortlich gemacht, auch wenn er für die Lage nichts konnte.

Wie groß der Anteil von Juden am Viehhandel wirklich war, ist nicht klar. Ein Indiz aus einer späteren Periode: Für 1917 ist die Zahl von 40000 deutschen Viehhändlern überliefert, davon waren 25000 jüdisch. Aber der jüdische Viehhändler wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts zur Zielscheibe antijüdischer Hetze. Gerade im Vogelsberg und anderen ländlichen Regionen fanden antisemitische Reichstagsabgeordnete Zuspruch, so der Marburger Politiker Dr. Otto Böckel, der zu judenfreien Viehmärkten aufrief.